Samstag, 24. Januar 2009
 
Mexiko: Der Krieg beginnt nach Einbruch der Dunkelheit PDF Drucken E-Mail
Geschrieben von Leo Gabriel   
Freitag, 20. Oktober 2006

Der Autobus, der meinen Kameramann und mich in der Nacht nach Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates im Süden Mexikos brachte, war preiswert und bequem. So bequem, dass ich eine Stunde vor der geplanten Ankunft jäh aus dem Schlaf gerissen wurde: „Wir kommen nicht weiter“, sagte der Chauffeur, „weil diese verdammte Stadt verbarrikadiert ist.“

Als ich einwarf, dass man uns bei der Abfahrt versichert hätte, dass es unterwegs keine Probleme geben werde, winkte er ab: „Diese Terroristen haben schon mehrmals Autobusse in Brand gesteckt und die Fahrgäste ausgeraubt. Passen Sie bloß auf!“

Einige Minuten später waren wir bei der ersten Barrikade, die von einigen LehrerInnen besetzt war. Waren das etwa „Terroristen“? Die Frauen lachten: „Typisch TELEVISA,“ sagten sie, „seit einigen Tagen behaupten alle Fernsehstationen, dass ganz Oaxaca in Händen der Guerilla ist. Eine der vielen Lügen, die der Gouverneur Ulisses Ruiz verbreitet.“

Die mit Glassplittern gespickten Strassen waren am frühen Morgen noch menschenleer, aber auf dem Hauptplatz gab es bereits geschäftiges Treiben. Eine Gruppe von Frauen kümmerte sich um die Müllentsorgung, während andere das Frühstück zubereiteten und wieder andere ein Auto (der Staatspolizei wie man mir versicherte) beschmierten: „Seras para el pueblo“ (Du gehörst der Bevölkerung), konnte man kurze Zeit später lesen.

Vor dem mit Holzbrettern dicht gemachten Rathaus waren die Tische der APPO (Asamblea Popular del Pueblo de Oaxaca) aufgestellt, der „Volksversammlung“, die fast jeden Tag zusammentrat, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Wir kamen gerade vorbei, als einige der AktivistInnen von der Menschenrechtskommission über die Vorfälle in der vergangenen Nacht berichteten. Diesmal, sagten sie, hätte es den Korrespondenten der spanischen Nachrichtenagentur EFE erwischt, der zufällig in der Nähe war, als einige bewaffnete Polizisten in Zivil von einem Pritschenwagen aus das Feuer eröffneten. Augenzeugen erzählten, wie sie auf die Journalistenautos geschossen hatten, obwohl diese klar als solche gekennzeichnet waren.

Überhaupt spielen die Medien in diesem postmodernen Revolutionsszenarium, das in vielem an die Zeit der Pariser Kommune erinnert eine große Rolle. Allein in der Landeshauptstadt halten die Aufständischen sieben Radiostationen und eine lokale Fernsehanstalt besetzt. Auch die Tageszeitung „Noticias“ ist mit von der Partie, wie uns ihr Direktor versicherte.

Als die Leute erfuhren, dass wir aus Österreich waren, zeigten sie sich besonders kämpferisch. In der Mitte des Hauptplatzes befand sich eine riesige Pappfigur in einem Hubschrauber aus Papiermaschee,auf der „ASESINO“ (Mörder) stand. Offensichtlich war damit der Gouverneur Ulisses Ruiz gemeint, der von einem Hubschrauber aus frühmorgens am 14. Juni das Feuer auf eine LehrerInnendemonstration eröffnen ließ.

„Wir sind bereit über alles zu verhandeln, sobald der Gouverneur zurücktritt“, erklärt Eden Bravo Castellano, einer der Chefverhandler der APPO, „dann müssen wir daran gehen, das zerrissene soziale Netz wiederherzustellen. Wir fordern deshalb auch eine constituyente (konstituierende Versammlung), die Oaxaca eine neue Landesverfassung geben soll.“

Mit dieser Aussage hatte der APPO-Vertreter auch den springenden Punkt in dem Verhandlungsmarathon angesprochen, der seit August zwischen der APPO und dem Innenministerium in Mexico-Stadt fast jeden Mittwoch stattfindet. Während jedoch die durch das Schlammassel nach den vergangenen Wahlen stark geschwächte Regierung des Präsidenten Vicente Fox bereit ist, prinzipiell über alles zu reden, nur nicht über den Rücktritt des Gouverneurs, ist es bei den aufmüpfigen Oaxaquenos, welche die Stadt seit vier Monaten – oft unter dem Einsatz ihres Lebens - in Beschlag genommen haben, gerade umgekehrt: sie wollen über soziale Reformen erst dann reden, wenn der Gouverneur zurückgetreten ist.

Dass daran auch die permanenten Drohungen und Übergriffe der unter dem Kommando von Ulises Ruiz befindlichen Sicherheitsorgane und paramilitärischen Einheiten nichts ändern wird, wurde uns deutlich, als wir mit den Opfern der permanenten Repression sprachen, der die Bevölkerung von Oaxaca Tag für Tag ausgesetzt ist:

„Wir gingen in einem der Residenzviertel der wohlhabenden Leute spazieren, die es ja auch in Oaxaca gibt, als ein Auto neben uns stehen blieb. Ihm entstiegen einige in Zivil gekleidete Polizisten, die uns zwangen, zur Polizeistation mitzukommen. Dort folterten sie uns: mir schnitten sie in die Ohren, prügelten mich und wollten eine Zigarette auf meiner Zunge ausdrücken...“ sagte eines der Opfer. Andere zeigten uns einen Poster mit dem Bild von Professor Evangelino Mendoza Gonzalez, eines behinderten Biologen, den die Polizei vor ein paar Monaten aus seinem Rollstuhl gezerrt hatte und der seither nicht wieder aufgetaucht ist.

Dass dieser lange Auszehrungskrieg um Oaxaca seit dem 22. Mai bereits 56 Tote, 114 Verschwundene und Hunderte Verletzte gefordert hat, war für uns angesichts des bunten Treibens am Hauptplatz lange Zeit unvorstellbar. Erst als der Abend nahte, merkten wir den Gesichtern eine steigende Nervosität an. Maria, eine Volksschullehrerin, die uns den ganzen Tag über begleitet hatte, gab letzte Anweisungen an ihre Kinder, damit sie für die Nacht versorgt würden. Denn weder sie noch irgendeine andere der Hunderten von AktivistInnen die bei Einbruch der Dunkelheit zu den Barrikaden gingen, wusste, was nach Einbruch der Dunkelheit passieren würde.

Und immer wieder passiert es: aus der Dunkelheit tauchen plötzlich zwei Scheinwerfer auf. „Achtung, da kommen sie!“ schreit einer. „Geh weg David,“ ruft eine andere. Aber es ist zu spät: Gewehrsalven und Pistolenschüsse sprühen um sich als gehörten sie zu einem riesigen Feuerwerk. Meistens ist der Spuk ebenso schnell vorbei wie er begonnen hat.

Dann noch ein lauter Ruf: „Antonio, Antonio... Es hat ihn erwischt! Kommt doch! Wir brauchen ein Auto!“ Vier Männer hieven den bewusstlosen Architekten, der einen Streifschuss am Kopf abbekommen hat, auf den Rücksitz seines Wagens. Antonio stirbt noch in der gleichen Nacht.

Wie lange wird das noch dauern? Das ist die zentrale Frage, die sich hier jeder stellt. „Es werden in Oaxaca leider noch viele Menschen sterben müssen, bevor sich die Lage ändern wird,“ hat der evangelische Pastor beim Begräbnis von Antonio gesagt. Aber wie viele werden es sein? Niemand weiß es - nicht einmal die Soldaten und Polizisten der Policía FederalPreventiva (PFP), welche der Innenminister in die unmittelbare Umgebung von Oaxaca-Stadt geschickt hat, um auf die Verhandler von der APPO Druck auszuüben.

Diese aber bleiben hart: Ulises Ruiz muss zurücktreten. Daran führt kein Weg vorbei, wenngleich die Zentralregierung in Mexico-Stadt das partout nicht akzeptieren will - weder die alte Regierungsmannschaft von Vicente Fox noch die neue von Felipe Calderón, in dessen politischen Schlepptau sich Ulises Ruiz in den letzten Monaten vor den Präsidentschaftswahlen begeben hat.

Nur ein massiver internationaler Protest kann das Massaker verhindern, das u.a. auch auf Druck der USA geplant ist!



Siehe auch. Dossier Mexiko/Oaxaca 2006

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